Plötzensee, 09:00: Es ist kühl, der See liegt ruhig vor mir, die Welt scheint noch in Ordnung zu sein.
Ich habe mich entschlossen, den Weg vom Campingplatz bis zum Regierungsviertel zu Fuß zu gehen. Der Weg führt mich am Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal entlang. Hier tummeln sich die Jogger, aber auch ein „Kurzzeitbesucher“ hat sich mit seinem Biwakzelt hierher verirrt.
Diese Weggabelung erscheint mir wie eine Metapher für den heutigen Tag: welchen Weg wird das Parlament und damit unsere Bundesrepublik heute nehmen? Den Weg bergauf oder doch lieber den geraden Weg "ohne Mühen"?
Ohne es vorher gewusst zu haben komme ich auch am Tor des RKI vorbei. Alles scheint ruhig und ohne Angst vor Demonstranten zu sein. Keine Sicherheitsvorkehrungen. Erst später wird mir klar, dass dies gleich Seite an Seite mit der Charité und Herrn Drosten’s Institut liegt.
Nachdem man den Zugang zum Regierungsviertel von Norden über alle Spreebrücken abgesperrt hat, bleibt uns vom Hauptbahnhof aus nur der lange Umweg über den herbstlichen Tiergarten von Westen her Richtung Brandenburger Tor.
Auf der Straße des 17. Juni zeigt sich uns nahe bei der Siegessäule schon, welchen Plan die Polizei heute haben wird. Die 10 Mio.€ teuren Wasserwerfer (je Stück!) wirken auf mich wie überdimensionale Heuschrecken. Jeder kann 10.000 Liter Wasser fassen.
Am Sowjetischen Ehrenmal erscheint noch alles ruhig. Die Blumen im Kanonenrohr und der Smartphone lesende Demonstrant wirken auf mich wie ein Sinnbild für den friedlichen Protest, der heute vor dem Reichstag ansteht.
Diese beiden Demonstranten wirken wie zwei abgekämpfte Krieger. Dabei ist dies noch lange vor der heißen Phase vor dem Brandenburger Tor.
Das Regierungsviertel wird auch von dieser Seite hermetisch mit Polizeiketten abgeriegelt. Einige Demonstranten versuchen, mit den vermummten Beamten ins Gespräch zu kommen. In vielen Augen kann man Verständnis erkennen, aber aus der Befehlsstruktur will keiner aussteigen.
Dass man hier offensichtlich Angst vor dem Freiheitsbazillus hat belegt das aufgebotene Potenzial zur Sicherung des „Gewaltmonopols“.
Viele Herzen werden den Polizisten aus der Menge entgegen gehalten.
Soll dieses Publikum etwa gewaltbereit sein? Zwei blinde Frauen werden von ihrer Begleiterin entlang dem Polizeikordon geführt.
Auch diese ältere Dame mit ihrer Kerze hält hier ihre persönliche Friedenswache.
Andere legten Blumen und Kerzen vor die Füße der Polizisten.
Die Angst und Trauer um den Verlust der Freiheit und die Beerdigung des Grundgesetzes hat wieder viele tausende Menschen hier versammelt.
Doch die Stimmung ist von Liebe und Frieden geprägt. Viele der Teilnehmer haben solch eine Situation schon einmal vor mehr als 30 Jahren erlebt und hoffen auch diesmal auf einen guten Ausgang.
Aber die vielen (Luftballon)Herzen und Rufe für Frieden, Freiheit und Demokratie erreichen nicht die Herrschenden und so kommen die Wasserwerfer in Berlin nach 17 Jahren erstmals wieder zum Einsatz.
Dass sich hier nicht Radikale, Rechte, Nazis oder Aluhüte versammeln kann jeder Besucher einfach erkennen.
Die Teilnehmer kommen aus allen Bevölkerungsschichten und Altersstufen.
Wäre der Anlass nicht so ernst, könnte man die Wasserfontänen der Polizei von Ferne wie ein Wasserspiel im Tiergarten ansehen. Nur die Anwesenheit von Kindern hindert die Polizei daran, den harten Strahl mitten in die Menge zu richten.
Dieser junge Mann kommt noch mit einer völlig durchweichten Kleidung davon. Andere trifft auch der Strahl der Pfeffersprays oder gar das Reizgas, das von der Polizei mit versprüht wird. Paramedics werden von der Polizei an der Versorgung der Verletzten gehindert.
Viele der Demonstranten ziehen sich nach der massiven Bekämpfung mit Wasserwerfern in den Tiergarten zurück.
So bekommt ein Mahnmal eine neue Bedeutung. Dieses Mal muß „Der Rufer“ (von Gerhard Marcks) nicht über eine physische Mauer hinweg rufen, sondern über ein Polizeiaufgebot, das Volksvertreter von ihrem Souverän abschirmt.
Nachdem so die Abstimmung im Bundestag für das 3. IfSG ungehindert durchgesetzt wurde, bewegen sich manche Demonstranten zum Bundestrat, andere zum Schloß Bellvue, wo der Bundespräsident in letzter Instanz seine Unterschrift unter das Gesetz setzen soll.
Nachdem anfangs die Sicherung des Schlosses durch die Polizei noch gemäßigt erscheint, so rücken bei der Verlagerung der Demonstranten schnell eine Unmenge von Polizeitruppen an, um auch hier doppelte und dreifache Sperrlinien aufzubauen.
Obwohl die Anzahl der Demonstranten inzwischen überschaubar ist, kann man den Eindruck gewinnen, dass dieser Staat hier eine massive Invasion von Staatsfeinden erwartet. Insgesamt kann dies als Schwarzer Tag für diese Republik angesehen werden.